Freitag, 8. Mai 2015

Christine Nöstlinger zu Flucht


Anlässlich des siebzigsten Jahrestags der Befreiung des KZ Mauthausen hielt Christine Nöstlinger eine bemerkenswerte Rede im Parlament, die allen, denen an einem friedlichen Miteinander von Kulturen und Ethnien gelegen ist, aus der Seele sprechen muss. In Anbetracht der Wichtigkeit und Wahrheit des Inhalts sehen wir uns veranlasst, diese Rede hier auch annähernd genau schriftlich wiederzugeben. Das Anhören dauert nur 14 Minuten. Wenig Zeit für viel Wahrheit.



Rede Christine Nöstlingers im Sitzungssaal des Parlaments anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des KZ Mauthausen:

Als Mauthausen errichtet wurde, war ich
noch nicht ganz zwei Jahr alt. Als die letzten Überlebenden befreit wurden, war ich achteinhalb Jahre. Man könnte also denken, dass in meinen Erinnerungen das KZ Mauthausen kein Thema wäre. Dem ist nicht so. Unzählige Male hörte ich, wenn meine Großmutter beim Kreissler oder bei der Milchfrau auf die Nazi schimpfte. Dann hieß es immer: „Reden´s ina net uman Kopf", und „Sie reden ina no ins KZ eini".

Ein anderes Erlebnis: der kleine Bruder meiner Mutter ist zu Besuch. Groß und breit in SS-Uniform steht er neben meiner kleinen Mutter und sagt: „Ella, die Juden geh´n alle durch den Rauchfang". Meine kleine Mutter bekommt ihr rotes Zorngesicht und gibt ihrem großen kleinen Bruder eine Ohrfeige. Ich glaube, das war die einzige Ohrfeige, die meine friedliebende Mutter jemals jemanden gegeben hat. Durch den Rauchfang gehen musste also etwas sehr schreckliches gewesen sein. Somit war auch klar, dass Herr Fischl durch den Rauchfang gegangen ist. Fischl hatte eine Schusterwerkstatt in unserer Gasse gehabt. Im Jahr 38, kurz nach dem Anschluss sah meine Mutter eine grausige Szene. SA-Männer hatten Herrn Fischl aus dem Laden geholt und zwangen ihn, mit einer Zahnbürste drei weiße Pfeile wegzuschrubben. Einige Nachbarn schauten belustigt zu. Später hörte sie, dass Herr Fischl auf dem LKW abtransportiert wurde.

Mutter erzählte mir und meiner Schwester immer wieder, was dem Herrn Fischl angetan worden war. Sie kam nicht damit zurecht, dass sie nicht eingegriffen hatte und rechtfertigte sich jedes Mal vor sich selbst mit der Erklärung: Hätte ich euch Kinder nicht daheim g´habt, wär ich rüber und hätt die Bagage vertrieben. Dass sich Erwachsene manchmal selbst belügen, wusste ich damals nicht. Also war ich der Überzeugung, meine Mutter hätte den Herrn Fischl gerettet, hätte es mich nicht gegeben. Daher glaubte ich, mitschuld am Tod von Herrn Fischl zu sein. Frei von Schuld zu sein, heißt nicht, frei von Verantwortung zu sein. Viele haben als Zeitzeugen den nachfolgenden Generationen zu erzählen versucht, wohin Rassismus geführt hat und sich laut zu Wort gemeldet, wenn wieder gegen Minderheiten Stimmung gemacht wurde. Leicht gemacht hat man ihnen das nicht immer. Vielen waren sie zu unbequem. Sie störten beim Vergessen, beim Behaupten, völlig ahnungslos gewesen zu sein, beim Beklagen dessen, was man selbst im Krieg erlitten und verloren hatte und vor allem beim selbstzufriedenen Neuanfang. Unsere Nachkriegsregierungen waren nicht emsig bemüht, Nazitäter zu verfolgen. Es waren einfach zu viele, um ohne sie einen funktionierenden Staat zu machen. Woher hätte man nach Kriegsende auch ausreichend unbelastete Lehrer und Beamte nehmen sollen. Auch die Anstrengungen, Juden und Antifaschisten, die geflüchtet waren, heimzuholen, waren karg. Und zu überlegen, wie man Roma und Sinti, die den Krieg überlebt hatten, besser integrieren könnte, war schon gar kein Anliegen.

Meine Generation und meine Kinder wurden also in einem Land groß, in dem Rassismus nach wie vor die Gesinnung sehr vieler, tradiert vor allem in den Familien Zum Positiven Verändert hat sich da bis heute nicht viel. Rassismus in anderen Mäntelchen. Rassenschande, Endlösung, Herren- und Untermenschen und Endlösung wagt heute niemand mehr zu sagen und kaum mehr zu denken. Heutiger Rassismus lehnt schlicht alles Fremde ab, sieht das eigene Volk durch Überfremdung in Gefahr, wittert sogar Bevorzugung der Ausländer und meint alle sin allem, die wollen von uns leben, die wollen uns etwas wegnehmen. Wer so denkt und unter Gleichgesinnten auch so redet, schmiert noch lange keine rassistischen Parolen, wirft keine jüdischen Grabsteine um, beschimpft keine Frauen, die Kopftuch tragen, verprügelt keine Schwarzen und zündet keine Asylantenheime an. Aber den Menschen, die es tun, geben sie die Sicherheit, auch in ihrem Interesse zu agieren. Sie sind der Nährboden, aus dem Gewalt wächst. Die Auswahl an Minderheiten, gegen die man im besten Fall etwas hat, im schlimmsten Fall etwas unternimmt, hat sich ja enorm gemehrt. Zu den tradierten Objekten für Ablehnung und Aggression kamen hinzu Asylsuchende und Wirtschaftsflüchtlinge, ganz gleich woher sie kommen und Menschen mit Migrationshintergrund, ganz gleich ob sie österreichische Staatsbürger sind oder nicht. Menschen mit anderer Hautfarbe sowieso. Allerdings schützt heute im Gegensatz zum Rassismus der NS-Zeit totale Assimilation vor Anfeindung. Die große Mehrheit im Land meint Assimilation, wenn sie mehr Integration fordert. Man will sich das Fremde und Unbekannte nicht vertraut machen sondern wünscht sich die Anpassung der Zugezogenen an die hier ortsübliche Lebensweise, was aber in den seltensten Fällen passiert. Als ergäben sich Probleme bei Zusammenleben mit Menschen aus fremden Kulturen. Darauf zu warten, dass diese Probleme mit der Zeit kleiner werden durch zunehmende Toleranz der Alteingesessenen und zunehmende Anpassung der Zugezogenen war lange ein Rezept vieler unserer Politiker, das oft gewirkt, aber auch oft versagt hat. Versäumtes muss jetzt nachgeholt werden. Kindergartenpflicht und Ganztagsschulen etwa, dazu Pädagoginnen, die wirklich dazu ausgebildet sind, Kindern mit einer anderer Muttersprache so gut Deutsch zu lehren, dass sie annähernd die gleiche Sprachkompetenz und somit auch annähernd die gleichen Chancen auf Bildung haben. Nur so verhindert man das Entstehen von Parallelgesellschaften auf Unterschichtsniveau. Ebenso ist bessere Bildung das einzige brauchbare Mittel zur Aufweichung von rassistischen Vorurteilen in der Mehrheitsbevölkerung. Denn, wer nichts weiß, muss alles glauben. Auch den größten Unsinn und die schamlosesten Verdrehungen. Wobei allerdings die Frage bleibt, warum so viele Menschen lieber Rassisten glauben, als denen, die sagen, dass friedliches Nebeneinander, wenn schon nicht Miteinander möglich sei. Vielleicht ist es ja so. Der Mensch hat zu seinen sieben Hautschichten noch eine achte Schicht, die Zivilisationshaut. Mit der kommt er nicht zur Welt. Die wächst ihm erst ab Geburt. Dicker oder dünner, je nachdem wie sie gepflegt und gehegt wird. Versorgt man sie nicht gut, bleibt sie dünn und reißt schnell auf. Was aus den Rissen wuchert, könnte zu Folgen führen, von denen es dann betreten wieder einmal heißt, das hat doch niemand gewollt.

Dankeschön.

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