Dienstag, 13. Dezember 2022

Ode an den Alltagsradweg



Wenn Sie mich in diesen Tagen Beethovens "Ode an die Freude" pfeifen hören, hat das einen konkreten Grund: der Radweg über die Autobahnbrücke hat es in Budget 2023 geschafft und sollte damit wohl in absehbarer Zeit umgesetzt werden!

Das ist eine gute Nachricht. Das ist zu unterstützen. Das ist ein wichtiger Schritt.

Und offen gesagt: Überfällig ist es auch. Im Rahmen der niederösterreichischen RADLand Initiative war unter Einbeziehung der Gemeinden diese Route als hochprioritär eingestuft worden. Wiener Neudeudorf zB hat ihren Teil schon lange umgesetzt. Aber sei es drum. Was lange währt wird endlich gut. Freude, schöner Götterfunken.

Jetzt mag sich manche fragen wozu es überhaupt einen Radweg über die Autobahnbrücke braucht, gibt es doch den altbekannten Radweg unten am Mödlingbach. Das ist grundsätzlich eine richtige Beobachtung. Aber ich behaupte, dass alle die meinen, der Mödlingbach-Radweg wäre ein Alltagsradweg, in eine von zwei Gruppen fallen: Sonntagsradler und ganz harte Hunde. 

Mit beiden Gruppen möchte ich mich kurz beschäftigen, weil man hier viel darüber lernen kann, was ein Alltagsradweg ist und für wen wir ihn eigentlich brauchen. 

Die harten Hunde 

In seiner bekannten und oft zitieren Studie "Four Types of Cyclists" hat Roger Geller vier Typen von Fahrradfahrern identifiziert und ihre gesellschaftliche Verteilung ermittel (die Studie wurde für Portland gemacht aber international mit immer sehr ähnlichen Verhältnissen wiederholt): 

  • Strong and Fearless: Das sind Menschen die praktisch unter allen Bedingungen und ohne jegliche Fahrrad-Infrastruktur radfahren werden. Diese stellen weniger als 1% der Gesellschaft. 
  • Enthused and Confident: Menschen die sich gern und selbstsicher am Rad bewegen. Ihr größtes Bedürfnis sind kurze Wege mit halbwegs annehmbarer Infrastruktur. Ca. 7% gehören dieser Gruppe an. 
  • Interested but Concerned: Diese Gruppe wäre durchaus am Fahrradfahren interessiert, ist aber vor allem besorgt um ihre Sicherheit. Sie stellen die höchsten Ansprüche an die Infrastruktur und sind mit 60% die mit Abstand größte Gruppe. 
  • No Way, No How: Mitglieder dieser Gruppe werden nicht mit dem Fahrrad fahren, egal wie gut die Infrastruktur ist. Entweder weil sie nicht wollen oder objektiv nicht können. Sie stellend mit rund 33% die zweitgrößte Gruppe dar. 

Warum ich das erzähle ist, dass Mitglieder der Strong and Fearless und der Enthused and Confident gern mal dazu neigen, das Bedürfniss nach guter Infrastruktur vom Tisch zu wischen. Man solle sich "nicht so haben" und "sich mal einen Ruck geben". "Sooooo schlimm" sei es auch nicht und "früher habe uns das auch gereicht". Auch der Autor dieser Zeilen muss sich da ein wenig an die eigene Nase fassen. (* Zwei Bemerkungen zu dem Thema ganz am Ende

Das sind die, die ich oben (durchaus ironisch) als "harte Hunde" bezeichnet habe. Und wir müssen verstehen, dass wir nicht für diese Leute progressive Verkehrspolitk betreiben. Sie brauchen sie kaum. Die Leute für die wir uns wirklich stark interessieren sollten sind die "Interested but Concerned". Mit ihrer absoluten Mehrheit in der Bevölkerung schlummert hier das größte Potential für Veränderung.
Der Verkehrsektor ist der Bereich in Österreich bei dem der CO2 Ausstuss ungebrochen steigt und steigt. Jede Maßnahme die reale und gefühlte Sicherheit steigert motiviert und mobiliert Menschen dieser Gruppe das Auto öfter stehen zu lassen. Das brauchen wir dringend. Und wenn wir das schaffen ist es absolut unwesentlich wer diese Maßnahmen für übertrieben befunden hat.

Jetzt wird praktisch jeder bei "Sicherheit" an Autos gedacht haben. Und dann läge nahe zu sagen "Ja aber am Mödlingbach-Radweg gibt es ja keine Autos. Also ist er sicher".
Meine Antwort darauf ist ein klares Jein. Denn auch diese Beobachtung ist zwar nicht falsch. Aber es gibt auch andere Formen der Sicherheit und andere Bedürfnisse die ein Alltagsradweg erfüllen muss. Ich möchte diese anhand der zweiten erwähnten Gruppe beginnen zu verdeutlichen: 

Die Sonntagsfahrer 

Im Gegensatz zu den harten Hunden will ich diese Gruppe gar nicht mit einem ironischen Zwinkern bedenken. Ich will sie auch nicht bekehren. Ich will bei ihnen nur um Verständnis werben, dass ihre Bedürfnisse und auch Erfahrungen sich stark von deinen eines Alltag-Radlers unterscheiden.

Menschen die ich als Sonntagsfahrer bezeichne setzen sich praktisch nur dann aufs Rad, wenn folgende drei Bedingungen gegeben sind: 

  • das Wetter ist gut 
  • es ist Tag 
  • sie haben ein wenig Zeit 

Das ist gut. Und für diese Gelegenheiten ist entlang des Mödlingbaches auch mein Weg der Wahl. Mal sanft und mal wilder geschwungen. An Kapellen vorbei und über Brücken. Dem Bach entlang und durch schöne Waldstücke. Herrlich. Ein Genuß.

Aber wenn man versucht seinen Alltag zu meistern, kann man sich nun mal auf diese drei Vorbedingungen (gutes Wetter, Tageslicht und genügend Zeit) nicht verlassen. Und wenn diese nicht passen, fällt der Mödlingbachradweg durch.

Das Wetter

Hier gibt es eigentlich nicht viel zu erklären. Schnee und Eis sind hier seltener ein Problem als man meinen mag (gibt es eh kaum noch und gerade auf Biedermannsdorfer Seite ist mir aufgefallen, dass hier sehr früh geräumt wird). Aber den ganzen Herbst über macht nasses Laub den Weg zu einer halbwegs gefährlichen Rutschpartie. Bei Regen merkt man den lokalen Temperaturunterschied (Kühlung durch den Mödlingbach) doppelt. Und bei böigem Wind wurde auf Grund der Bruchgefahr alter Bäume der Weg allein in diesem Jahr zweimal gesperrt.

Zugegeben: Wiedrige Witterung ist nicht das Hauptproblem des Mödlingbachradweges. Aber sie verstärkt sich dort unten deutlich.

Die Tageszeit 

Alltagswege finden nicht nur unter Tags statt. Mal kommt man später heim, mal muss man ganz früh raus oder man ist einfach in der "dunklen Jahreszeit" unterwegs. Und zu diesen Gelegenheiten versteht man warum in Leitfäden zur Radweggestaltung immer wieder zu finden ist, dass Radwege auch zwischen Gemeinden nie ganz abgesondert sein sollen: allein durch gar nicht bis schlecht beleuchteten Wald zu radlen ist schlicht unergreifend nicht angenehm.
Wer immer meint damit gar kein Problem zu haben, darf sich gerne selber als "harten Hund" bezeichnen. Ich für meinen Teil gebe gerne zu, dass ich nach 22:00 lieber die hellere und belebtere Route über die Autobahnbrücke wähle (auch wenn ich dabei am Gehsteig fahren muss). 

Und wie ich bereits oben ausgeführt habe, ist es im Grunde egal, wer damit KEIN Problem hat. Wenn sich Leute nicht wohl dabei fühlen, den Weg nach Sonnenuntergang am Rad zurück zu legen werden sie es zu großen Teilen auch nicht tun wenn auch nur die Möglichkeit besteht in diese Verlegenheit zu kommen.

Zeitdruck

Der Mödlingbachradweg ist einfach langsam.

Dabei gibt nicht mal unbedingt nur die längere Strecke den Ausschlag. Wenn man vom Gemeindeamt kommend nicht die direkte Route über die Brücke nimmt, sondern über den Schulweg zum Mödlingbach und dann weiter fährt, legt man bis Höhe Klosterpark in WRN "nur" 500 zusätzliche Meter zurück. Nicht gut.
Aber gravierender ist die kurvenreiche Strecke die einen zu ständigem Bremsen und Beschleunigen zwingt. Die Fahrbahn ist an vielen Stellen eng und unübersichtlich, also fährt man langsamer. Und oft trifft man auf Fußgänger mit Hunden oder Kindern die zumindest ich nie in vollem Tempo überhole.
Kurz: man kommt nie dazu die Räder einfach rollen zu lassen.

Vor zwei Jahren habe ich mir den Spaß gemacht ein paar Wege hin und her abzustoppen. Dabei haben die Wege entlang des Mödlingbaches immer 3 bis 5 Minuten länger gedauert. Das erscheint erst mal gar nicht mal so viel. Aber ich lade Sie zu einem Gedankenexperiment ein:
Stellen Sie sich vor sie könnten als Autofahrer nicht mehr über "unsere" Autobahnbrücke fahren sondern müssten immer über den Laxenburg-Kreisverkehr, die B11 und dann B17 ausweichen. Der Umweg kostet sie (vom Gemeindeamt bis zur Badnerbahn Kreutzung) ebenfalls 3 bis 5 Minuten (Google Maps sagt sogar nur 2).
Und jetzt stellen sie sich vor sie müssten diesen Umweg jeden Werktag machen. Zweimal. Ganz egal ob sie es eilig haben. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie sich genervt eine direktere Route wünschen? 

Abschluss und Ausblick

Ich hoffe bis hierher ein wenig Verständnis dafür geschaffen zu haben, warum der Radweg über die Bahnbrücke eine so wichtige Sache ist. Wiener Neudorf und Mödling sind sowohl für alltägliche Erledigungen als auch Öffi-Pendler die wichtigsten Ziele in der Region. Eine qualitative, sichere und flotte Verbindung dorthin wird es für viele attraktiv und vielleicht auch erst denkbar machen für diese Wege das Auto stehen zu lassen.

Aber warum habe ich mir jetzt die Mühe gemacht, diesen Artikel zu schreiben?
Warum erkläre ich langwierig die Anliegen und Bedürfnisse von Fahrradfahrern, wenn doch der Radweg über die Autobahnbrücke eh schon unter Dach und Fach ist? 

Weil es nun mal buchstäblich nicht am Fuße der Autobahnbrücke enden kann.
Der einzige richtige Radweg von dort weiter führt uns nämlich wieder über 200 Meter runter zum Mödlingbach...

Die oben erwähnten RADLand Pläne sahen vor, den Radweg über den Haidweg und dann über die gesamte Länge Josef Bauer-Straße bis vor zur Wiener-Straße zu verlängern. Ich und einige andere fahren diese Wege jetzt schon. Aber vergessen wir nicht, dass es darum geht die "Interested but Concerned" (und deren Kinder) zu erreichen. Und spätestens Buchenweg bis Wiener Straße sind für Radfahrer kein sehr prickelndes Erlebnis.
Denken wir stattdessen diesen Radweg und zusätzlich eine Verbindung von der Joseph Bauer-Straße zum Gemeindeamt und wir haben eine Verbindung in der Kinder aus der Parkstraße und Umgebung ohne Umweg bis zur Volksschule kommen. Ein kleines Netzwerk entsteht.
Verlängern wir von der Wiener Straße 80 Meter in die Humphandl-Gasse bis zur Robert von Lieben-Straße und wir haben Billa, Hofer und Apotheke nahtlos angeschlossen.

Denken wir etwas weiter hinaus. In nur 2 Kilometern Entfernung haben wir in Achau einen Bahnhof, der in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung und Attraktivität gewonnen hat. Und die Verbindung dort hin hat die selben Probleme wie die bestehende Verbindung nach WRN...

Sie sehen, ich komme ins fröhliche Planen (nach Norden rauf hab ich noch gar nichts gesagt!) . . . aber sie sehen auch, dass die Lösungen immer stimmiger und attraktiver werden, wenn wir einerseits beginnen bestehende Teilstücke konsequent zu verbinden und andererseits aufhören Fahrradinfrastruktur immer nur an die Peripherie zu schieben.

Das alles sind, befürchte ich, Ideen für übermorgen.
Und vorm Handlen kommt das Verstehen und Verständigen. Und auch darum hab ich diesen Artikel geschrieben. 

Und bis zum Handeln freue ich mich über das was fix kommt.



(*)
Wie angekündigt zwei Anmerkungen zu den 4 Typen der Radfahrer, die ich einfach nicht mitten im Artikel einbauen konnte ohne mich vollends zu verfransen.

 Erstens bin ich mit den Strong-And-Fearless bzw den Enthused-And-Confident und deren Argumentationsform ("sollen sich nicht so haben") ein wenig ungerecht umgegangen. Die meisten in diesen Gruppen sind sehr verständnis- und rücksichtsvolle Menschen. Ich hab auch das Gefühl die geschilderten Argumente eher aus dem Mund von Leuten gehört zu haben, die eigentlich um nichts in der Welt aufs Auto verzichten wollen aber in der aktuellen Diskussion lieber den Strong-And-Fearless herauskehren.

Zweitens möchte ich darauf hinweisen, dass viele Interested-but-Concerned nicht nur um ihrer selbst willen in dieser sorgen-behafteten Gruppe sind bzw auch nicht immer waren. Es sind einfach oft Eltern die nicht immer wissen wie sie ihre Wege und ihren Alltag mit Kindern aber ohne Auto bewältigen sollen. Kenne ich zumindest von mir so.


-- Update 20. Dezember 2022: das neue Bild dieses Blog-Artikels wurde mit der Bilder-KI Stable Diffusion und dem Prompt "Beethoven on a bicycle" erzeugt.

3 Kommentare:

  1. Danke Axel, pflichte Dir praktisch zu 100% bei. Nur die Mehrheit sind die Interested but Concerned.

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    1. Hallo.
      Vielen Dank für das Kommentar (und Entschuldigung, dass ich es jetzt erst gesehen habe).

      Ich weiß nicht, ob ich die Bemerkung "Nur die Mehrheit sind die Interested but Concerned" richtig versehe. Ich verstehe sie mit einem "leider" davor. Im Sinne von "da kann man nix machen".
      Das ist genau was ich mit diesem Artikel NICHT sagen wollte ;)

      Was ich nur angedeutet habe: die Studie wurde oft wiederholt und man ist immer zu ziemlich gleichen Ergebnissen gekommen. Das ist erstaunlich. In Amsterdam (wo viel geradelt wird) kommt man diesbezüglich auf ganz ähnliche Bevölkerungsstrukturen wie in Los Angeles (wo praktisch niemand mit dem Rad fährt).

      Daraus folgt, dass der hohe Anteil ( 60% ) der Interested-but-Concerned schlicht und ergreifend ein starker Auftrag zur aktiven Gestaltung der Fahrradinfrastruktur ist. Die Strong-But-Concerned sind nicht als "gottgegebenes Hindernis" zu verstehen sondern als Leitfaden dafür wie Fahrrad-Infrastruktur aussehen sollte wenn man möglichst viele Menschen erreichen will.

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    2. Ich wurde gerade von anderer Stelle darauf hingewiesen, dass ich den Satz der mit "Die Leute für die wir uns wirklich stark interessieren sollten sind die" beginnt, dann mit "Enthused and Confident" beendet habe und nicht (wie es richtig wäre) mit "Interested but Concerned".
      Das habe ich ausgebessert.

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