Mittwoch, 3. Juni 2020

Das Wunder von Medellín



Medellín. Ein Synonym für Drogenkrieg, Mord und Willkür. Der Name Pablo Escobar, der Drogenbaron, ist untrennbar mit dieser Stadt verbunden. Hier hatte er seine Machtbasis. Sein Name steht für Angst, Terror, und Krieg. Nachdem er in dieser Stadt erschossen wurde, füllten rasch neue Organisationen des Schreckens die Lücke auf. Polizei und Militär unterschieden sich an Grausamkeit gegenüber der Zivilbevölkerung kaum von den Banden, die sie bekämpften.

Die sozialrevolutionäre Guerillabewegung FARC, entstanden aus Hass und Angst, lehnte sich gemeinsam mit Teilen der Bevölkerung gegen diese Spirale der Gewalt auf. Mit Gewalt. So begann ein jahrelanger Krieg, an dessen Ende aber – „Das Wunder von Medellín“ stand.

Bürgerinnen und Bürger nahmen den Widerstand auf. Gewaltfrei. Zusammenhalt, Solidarität und viel Mut, aber auch Verzweiflung waren die Zutaten des Erfolgs. Überall in der Stadt bildeten sich lokale Initiativen und Nachbarschaftskollekte um der Gewalt etwas entgegenzusetzen. Der öffentliche Raum wurde mit Tanz, Musik, Theater und sozialen Projekten zurückerobert. Und die Politik half. Ehemalige FARC-Mitglieder nahmen an einer neuen Regierung teil.

Eines der herausragendsten und nachhaltigsten Leistungen brachte die Poesie zustande. Durch öffentliche Lesungen auf den Straßen, den Plätzen, den Parks und in den Straßencafés im Rahmen von Festivals sollte die Bevölkerung ihre Stadt wieder in Besitz nehmen.

„Ohne Waffe in der Hand, aber mit der Kraft der Poesie“, sagt Fernando Rendón, einer der Initiatoren des ersten Festivals, das ab 1991 jährlich stattfand und 2006 den Alternativen Nobelpreis erhielt.

Seit nunmehr 30 Jahren besuchen jedes Jahr herausragende Poeten die kolumbianische Stadt für 10 Tage – und finden dort bis zu 200.000 Zuhörerinnen und Zuhörer. Es ist ein Ruf, der mit der Sprache der Poesie die Herzen berührt und vielleicht seinen Teil dazu beitrug, dass der Jahrzehnte dauernde Bürgerkrieg 2016 beendet wurde.

Beendet wurden natürlich nicht negative strukturelle Probleme wie die offene Landfrage, die Menschen in die Stadt treibt und nach wie vor für Unruhe sorgt. Armut und Ungleichheit machen den Frieden in Medellín zu einem zerbrechlichen Gut. Doch das, was die Menschen dort bisher erreicht haben, stimmt zuversichtlich.

Man tut sich schwer, angesichts der schlechten Nachrichten, die uns aus jeder Zeitung, jedem Bildschirm entgegenbrüllen, diese Transformation zu verstehen. Dass man sie als Wunder bezeichnet, versteht man schon leichter. Was sagt das über unser Menschenbild, wenn wir den Sieg der Gewaltlosigkeit nicht verstehen? Jedenfalls zeigen die Ereignisse in Medellín, dass der Wandel möglich ist. Ob in Lateinamerika oder hier bei uns.

Karl Wagner

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